Tibet: Mit dem Kopf in den Wolken

Unser Kopf steckt in den Wolken. Nicht real, virtuell. Das Satellitenbild zeigt nichts als eine grosse, weisse Fläche. Zoom nach Links, das Layer wird neu geladen, jetzt sind die Wolken weg. Braune Konturen, und kaum sichtbar, irgendwo zwischen den Schattierungen ein dünnes helleres Band - unser Track. Er schlängelt sich den Hügeln entlang, um einen See. Hinauf auf einen Pass. Das sieht wild aus. Ob wir da durchkommen? Der Track bricht ab, verliert sich in kleinen Tümpeln. Ein Sumpf? Auszoomen, Übersicht gewinnen. Zack, und da ist sie wieder. Die grosse weisse Wolke. Routenplanen ist wie im Nebel zu wandeln. Zuerst sieht man nichts, hat keine Idee wo’s durchgeht, tappt in den Wolken. Dann einzelne Spuren, mögliche Trailverbindungen. Langsam setzt sich ein Weg zusammen. Die Fortsetzung unseres Yak Tracks gegen Norden. Aus vagen Vorstellungen entsteht langsam ein Bild, ein neues Abenteuer. Die Wolken lichten sich.

Unser Kopf steckt in den Wolken. 4000 Meter - und das ist nicht die Passhöhe. Nein, vielmehr ist es die tiefste Stelle zwischen zwei Pässen. Vorne rechts im Tal nähert sich die nächste Regenwand in Zeitraffer. Ein grauer Vorhang aus Regenschnüren. Ausgefranst an den Rändern, mit einem schmalen Riss in der Mitte, durch den wir einen letzten Blick auf ein Stück blauen Himmels erhaschen können. Dann verlaufen die Farben ineinander wie auf einem Aquarell. Das Schwarz breitet sich aus, verschlingt - und gewinnt. Wenige Sekunden noch, dann bläst der Wind uns die ersten nadelscharfen Eisregentropfen ins Gesicht. Der Himmel ist zum Greifen nah.

Die ehemalige tibetische Provinz Amdo ist die Heimat der Goloknomaden. Früher gefürchtete Räuber der Seidenstrasse, haben sie sich lange Zeit erfolgreich gegen die chinesische Übermacht aufgelehnt. Wer sich tagtäglich gegen solch harsche Umweltbedingungen behaupten muss, lässt sich nicht so schnell in ein System pressen. Doch ihren Trotz haben sie teuer bezahlen müssen. In China ist kein Platz für Freiheit und Unabhängigkeit. Wenn wir ein kleines Dorf erreichen, fahren wir oft durch trostlose, elend wirkende Barackenreihen. Zwangsansiedlungsprojekte der Regierung. Nomadentum passt nicht in ein politisches System, das auf Kontrolle aufbaut. Doch oft stehen die Reihenhäuschen leer, die Fensterscheiben sind eingeschlagen, der kleine Vorplatz mit Unkraut überwuchert. Ein Hauch Widerstand weht durch die leeren Gassen, trotz massiver Polizeipräsenz. Auf den Hochebenen stehen sie noch immer, die schwarzen Yakhaarzelte. Die Golok lassen sich nicht einsperren oder mit billigem Wohnraum ködern. Sie wirken stolz und wild mit ihren schwarzen Haarmähnen, den schweren Schaffellmänteln mit den überlangen Ärmeln und den dunklen Augen. Sie brauchen den Himmel als Dach, kein schepperndes Wellblech. Sie leben mit dem Kopf in den Wolken.

Nach Bayju erreichen wir das Grantimassiv von Nyempo Jurtse. Auf Satellitenbildern und den russischen Generalstabskarten, die wir zur Routenplanung nutzen, haben wir eine Spur gefunden, die uns mitten hindurch führen soll. Der Wetterbericht meldet ein dreitägiges Schönwetterfenster und nach der Hügellandschaft in den letzten Wochen sehnen wir uns nach dramatischeren Bergen. Eine schmale Betonstrasse wird zur Schotterpiste und wenig später zu einem perfekten Singletrail entlang eines Bergsees. Granitzacken reissen die vorbei jagenden Wolken in Fetzen. Am Abend stellen wir unser Zelt am Ende des Talbodens auf. Ein kurzer Schneeschauer, dann wird es sternenklar.

Nach dem Singletrail folgt der Bergpfad. 300 Höhenmeter geht es von unserem Basislager hoch auf 4500 Meter. Wir lösen den Rucksack aus unserem Frontharness und laden unser Gepäck auf den Rücken. Auch mit unbeladenem Bike wird der hike-a-bike hoch zum Pass anstrengend. Doch wir möchten nirgendwo anders sein. Der Bergsee unter uns schrumpft, die Felswände und Gipfel rücken näher. Genau für solche Strecken schlägt unser Herz. Wir lieben es, den Kopf in die Wolken zu stecken. Auch wenn wir uns dabei manchmal eine blaue Nase holen. Wir wissen, dass es sich fast immer lohnt, auch dann weiterzugehen, wenn der Weg endet.

In Aba zwingt uns ein weiteres Tief zu einer längeren Pause. Wir geniessen es, ein geheiztes Zimmer zu haben und dem unwirtlichen Wetter für einmal aus dem warmen Bett beim Austoben zuschauen zu können. Wind, Schnee, Regen, Kälte - der Wetterbericht zeigt graue Wolken für die nächsten acht Tage. Dann zwei Tage Sonnenschein. Wir beschliessen, den Bus bis in die Nähe des Amnye Machens zu nehmen, Osttibets heiligstem Berg. Wir wollen bereit sein, um nachzuholen, was wir vor sieben Jahren ausgelassen haben. Wir wollen bereit sein, um diesen Berg mit unseren Bikes zu umrunden, sobald sich die ersten Sonnenstrahlen zeigen. Doch der dort hausende Berggott Machen Pomra macht seinem Ruf nach Unberechenbarkeit alle Ehre. Vielleicht ärgert er sich über die neugebaute vierspurige Autobahn, die sich zu Füssen seiner Heimstatt wie ein chinesischer Lindwurm um den Berg frisst. Vielleicht macht er sich auch einfach über Wettervorhersagen lustig. Auf jeden Fall schickt er statt Sonne erneut Schnee, Regen und Kälte. Er packt sein Kristallschloss in graue Wolken und vertreibt uns damit endgültig aus Osttibet. Die Wetter App zeigt Regen für weitere zehn Tage.

Unser Kopf fühlt sich schwer an. Grau und vollbepackt mit all den Wolken. Grau und schwer vom Warten, vom Grübeln und Planen. Der Yak Track hat uns zwei Monate bestes Osttibet beschert. Nun geht er zu Ende. Wir brauchen etwas Fahrtwind, etwas Wärme, etwas Sonne. Irgendwann werden wir nach Osttibet zurückkehren. Zu den hohen Pässen, den herzlichen Menschen, der Wildheit des Plateaus. Ist es nicht so, dass man einen Ort immer dann verlassen soll, wenn man eigentlich noch nicht gehen will? Weiter mit dem Kopf in den Wolken zu leben?

Es ist Zeit. Wir steigen in den Zug zum Land des blauen Himmels.

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