Bolivia & Peru: Trail tales

Wie erklärt man einem älteren Herrn, der sein Leben in einem abgeschiedenen Hochtal in Gesellschaft seiner Lamas und Alpakas auf 4600m verbracht hat, das Konzept des Tourismus? Wir geben unser Bestes - und scheitern. „Was sucht ihr hier?“ Wiederholt er seine Frage und die darin mitschwingende Skepsis ist unüberhörbar. „Wir verbringen nur diese Nacht hier im Zelt und morgen verschwinden wir wieder ohne Spuren zu hinterlassen, geht das?“ versuchen wir die Gründe unseres Hierseins herunterzubrechen. Erneut schüttelt der Hirte seinen Kopf, murmelt etwas von „algo raro“ und wir merken, wir sind ihm mehr als suspekt. Frustriert wechseln wir einen Blick. 

Beide sind wir todmüde. Was vor knapp zwei Jahren noch unser Alltag war, ist durch das bequeme Leben zu Hause wieder zu harter Arbeit geworden. Wir hatten damit gerechnet, als wir die diesjährigen Sommerferien planten. Sechs Wochen durch die Peruanischen Anden, möglichst abgelegen und auf Pisten und Wegen, die uns damals im 2006 (ist es wirklich schon so lange her?) mit den Tourenrädern, ungenauen Papierkarten und wenig Erfahrung noch nicht offen standen. Uns war klar, dass das mangels Training kein Zuckerschlecken werden würde. Und doch sind wir die ersten Tage mit strahlender Laune unterwegs. Wir finden zurück in einen Tagesrhyhtmus, den die Sonne vorgibt, Essenspausen, die der Hunger diktiert, zufälliges Geplauder mit freundlichen Einheimischen, Zeit für gemeinsame Gespräche und Raum für eigene Gedanken. Das Leben in der Schweiz ist bereits nach wenigen Kilometern meilenweit weg. Wir leben wieder im Augenblick.

Der zwei Tage dauernde Anstieg aus der heissen Tambo Schlucht hinauf über den ersten fünftausender Pass sitzt uns in den Knochen und die noch ungewohnt dünne Höhenluft macht uns schlapp und schwindelig. Eigentlich wollten wir nur noch diese Pfanne voll Spaghetti in uns hineinschaufeln, Zähneputzen und dann, bevor es richtig kalt werden würde, in den Schlafsack kriechen. Back to the basics eben. Doch nun hat uns dieser Hirte beim Einsammeln seiner Lamas entdeckt und kommt mit unserem Hiersein nicht klar. Keine Basics mehr, sondern eine anspruchsvolle Begegnung. Unverständnis über unser Auftauchen in einer isolierten Region ist uns schon mehrmals begegnet, aber dieses offene Misstrauen ist etwas Neues.

Wir versuchen das ganze auf eine persönliche Ebene zu bringen und fragen nach seinem Namen.  Ein Trick, den wir oft in heiklen Situationen anwenden, um Vertrauen zum Gegenüber zu schaffen, das uns schlussendlich unter das Gesetz der Gastfreundschaft stellt. „Mario“, antwortet er und als Ivo ihm die Hand schüttelt und dabei erzählt, dass er einen Bruder gleichen Namens habe, glauben wir für einen Moment das Eis gebrochen zu haben. Das runzlige Gesicht verzieht sich zu einem leichten Lächeln. Doch zu früh gefreut. „Gott sagt mir, dass hier etwas Komisches vor sich geht“, insistiert Mario erneut, indem er sich an die Schläfe tippt. „Gott beschützt dich und uns in dieser Nacht, es wird überhaupt kein Problem geben,“ springen wir ohne Skrupel auf den religiösen Zug auf. Doch Mario schüttelt nachdrücklich den Kopf. „Gott schaut uns zu, aber er beschützt uns nicht. Es gibt böse Leute, Leute, die stehlen.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und treibt seine Lamas davon, zu seiner wo auch immer liegenden Steinhütte. Verdattert schauen wir ihm nach. War das jetzt auf uns gemünzt oder als Warnung gemeint? Und so gehen wir das Naheliegende an: Fertig essen, Zelt zusammenpacken, in der Dunkelheit weiterfahren. An diesem Ort bleiben wir nicht, die Zusicherung für unsere Sicherheit war uns zu wage.

Mit dem Altiplano erreichen wir bekanntes Terrain. Wie wenig sich hier verändert hat! Fast scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, als wir in Copacabana ins gleiche Hostal einchecken wie vor dreizehn Jahren und auf das tiefe Blau des Titicacasees hinaus schauen. Doch ein Blick in den Spiegel belehrt uns eines besseren. Bolivien mag sich nicht verändert haben, wir uns aber schon. Die leichten Fältchen in den Augenwinkeln, die sind neu. Und dass wir einen Tag später nicht bereits wieder vor Energie und Tatendrang strotzen - auch das ist anders.

Nach ein paar Pausentagen sind wir dann aber doch bereit für die Fortsetzung. Bereits der erste Pass führt uns auf 5100 Meter hinauf in die tiefe Einsamkeit der Hochanden. Der Abra Calzadas ist schneebedeckt, unsicher folgen wir einer einsamen Motorradspur. Gletscher und schroffe Bergspitzen sind zum Greifen nah. Und wie um das Klischee zu vervollständigen, zieht auch noch ein Kondor seine Kreise. Wir hatten vergessen, wie die Höhe in den Ohren rauscht. Hatten vergessen, wie wohltuend sich die ersten Sonnenstrahlen nach der kalten Nacht im Zelt auf der Haut anfühlen, wie es ist, Eissplitter aus der gefrorenen Wasserflasche zu lutschen. Es ist eine grandiose Runde, die wir da über die Satellitenkarte entdeckt haben und die uns einmal um den Nevado Illampu, den „Gott der Stürme“ führt. Eine, die süchtig macht. Und so ändern wir in Sorata kurzfristig unsere Pläne. Statt nordwärts durch Hügel nach Cusco zu fahren, peilen wir eine Route nach La Paz durch die Cordillera Real an. Frei nach Tolkien: „Nach Süden geh ich immer gern. Irgendwie hat man das Gefühl, es geht bergab!“

Bergab - pff... für einmal folgen wir einer bereits von anderen Bikepackern dokumentierten Route. Die Fotos auf Instagram haben uns verführt, die langsame Internetverbindung eine persönliche Kontrolle der Strecke per Satellit verhindert und am Schluss hat wohl auch das ausgeschüttete Endorphin der Illampu Runde zur „kommt gut, alles grande hier“ Haltung geführt. Drei Tage lang schieben wir unsere Bikes ohne erkennbaren Trail auf durchschnittlichen 4500 Metern einer imaginären GPS Linie entlang, durch hartes Andengras, das uns die Waden zersticht. Die weissen Riesen der Cordillera Real, ein fernes Versprechen am Horizont. Wir haben nichts gegen einen anstrengenden Hike-a-bike, aber er muss sich lohnen. Diese Route hier kommt uns aber mehr wie das Trotzverhalten eines Dreijährigen vor, der auf den Boden stampft und schreit: „Ich will, ich will, ich will aber, dass es da eine Verbindung gibt...“

Am vierten Tag, an der Laguna Q’ara Kota, trifft die ersehnte Änderung ein. Endlich fahren wir wieder auf einer Piste Richtung Condoriri und Huayna Potosi, beides prominente vergletscherte Sechstausender der Cordillera Real. Vor uns hoppelt ein fetter Hase davon. Sehnsüchtig schauen wir ihm nach - wie der wohl schmecken würde, knusprig geröstet? Und überhaupt: Lama oder Alpaka - welches Fleisch ist wohl besser? Ein Schenkel oder eher das Halsstück? Durch die langen Hike-a-Bike Abschnitte brauchten wir viel länger als erwartet und dementsprechend leer ist unser Proviantsack. Dann fahren wir um eine weitere Kurve und vor uns liegt ganz unerwartet eine einfache bewartete Berghütte. Gonzalez begrüsst uns herzlich und dreissig Minuten später sitzen wir vor einem Teller Reis, Papas Fritas und einem Spiegelei - ein Festmahl. Gedanken über die gegrillte andine Tierwelt lassen wir sausen. Als sich herausstellt, dass es sogar warmes Wasser zum Duschen hat, ist die Nacht gebucht.

Der nächste Morgen macht alle Mühsal der vergangenen Tage wett. Wir überqueren den Zongo Pass und rollen ins Huayna Potosi Basecamp. Auge in Auge stehen wir nun mit den mächtigsten Gipfeln der Königskordillere und so söhnen wir uns mit der Route innerhalb weniger Minuten aus. Was für eine geniale Strecke! Die sinnlosen Hike-a-bike Passagen verblassen in der strahlenden Mittagssonne.

Von La Paz nehmen wir den Nachtbus nach Cusco. Für den Abschluss unserer Reise haben wir uns einen besonderen Leckerbissen aufgehoben: Die Ausangate Umrundung, ein echter Bikepacking Klassiker. Während drei Tagen biken wir auf der Trekkingroute um den heiligen Berg, auf Tuchfühlung mit stürzenden Gletscherzungen und dunkelblauen Lagunen, und da sich fast alle Abfahrten als flowige Singletrails entpuppen, erreichen wir schneller als geplant wieder den Ausgangspunkt. Was nun?

Ad hoc planen wir eine Abschlussroute, mit der wir über einen einsamen 5200 Meter hohen namenlosen Pass das grösste Eisfeld der Tropen, die Quelccaya Eiskappe überqueren. Das Abendlicht färbt die Gletscher rosa, das gelbe Andengras leuchtet golden im schwarzen Lavasand und es rennen ein paar Vicunas über die Piste. Noch einmal stehen wir ganz hoch oben, klatschen ab, während die Schatten nach uns fingern und wir uns rasch warm anziehen. Das Beste kommt bekanntlich zuletzt, sonst ist es noch nicht das Ende. Was für eine Abfahrt.

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