Marokko: I really like the hike-a-bike

An Ostern schneit es uns ein. Wir schauen zur Tür hinaus und sehen zu, wie dicke weisse Flocken das Frühlingsgrün zudecken. Seit acht Wochen arbeiten wir wieder. Langsam finden wir uns zurecht im alten Leben, auch wenn wir uns manchmal fragen, wie es bloss geschehen konnte, dass wir wieder mitten drin stecken. Eine besonders grosse Schneeflocke schwebt an unserer Nase vorbei. Verdammt, es ist Frühling! In einer Woche beginnen die Frühlingsferien und hier sieht es aus wie im tiefsten Winter. Und da kippt plötzlich ein Schalter in uns. Wir müssen gar nichts sagen. Ein Blick genügt und wenige Minuten später haben wir ihn gebucht. Den Flug nach Marokko. Das Scheisswetter in der Schweiz kann uns mal.

Gepackt haben wir ruckzuck. Es fühlt sich an wie ein ganz gewöhnliches Aufbrechen nach einer längeren Pause. Nur dass es dieses Mal kein Aufbrechen aus einem fremden Hotelzimmer ist, sondern aus den eigenen vier Wänden. Am Bike klebt noch der rote Staub von Israels Wüste. Nur die Bremsklötze wechseln wir rasch, für alles andere bleibt keine Zeit. Und schon sind wir unterwegs. Ein zweiter Schalter kippt: In den Modus, in dem es egal ist, welcher Wochentag gerade ist, in dem wir am Morgen noch nicht wissen, wo wir am Abend schlafen werden, in dem wir wieder jede Minute des Tages gemeinsam verbringen und sich unser Gespräch um Höhenmeter, die Versorgungslage und die nächste Wasserstelle dreht. Der Reisemodus. Er hat uns bereits gefehlt.

Wir sind nicht zum ersten Mal in Marokko. Wir mögen das Land mit seiner landschaftlichen Vielfalt und dem orientalischen Flair. Wir mögen den Klang des Arabischen und des mit dem typischen Akzent des Magreb eingefärbten Französischs. Wir mögen es, dass sich nur dreieinhalb Flugstunden von Zuhause entfernt eine völlig fremde Welt auftut. Und wir freuen uns an der warmen Frühlingssonne und den für unser Empfinden bereits sommerlichen Temperaturen. Doch als wir nach unserer Ankunft in Marrakech das Meteo checken, wartet eine unerfreuliche Überraschung auf uns: Die nächsten drei Tage soll es bei Temperaturen um den Gefrierpunkt regnen - UND SCHNEIEN! So haben wir aber nicht gewettet, damals an diesem Ostersonntag.

Während wir das schlechte Wetter auf einer Langzeitreise einfach aussitzen würden, liegt das diesmal bei kurzen zwei Wochen Ferien nicht drin. Ein Plan B muss her. Auf der Südseite des Atlasgebirges soll es schön sein und schon sitzen wir im Bus in die Oasenstadt Ouarzazate. Fahren wir die geplante Route halt in umgekehrter Richtung. Auf einer kleinen Stein- und Erdpiste arbeiten wir uns auf 2200m hoch. Die Beine fühlen sich schwer an. Wo ist nur unsere Fitness hin? Fünfzehn Wochen Pause ohne viel Bewegung und noch weniger Velo fordern ihren Tribut. Zum Glück ist der Kopf noch so stur wie eh und je und so erreichen wir die Passhöhe zwar mit brennenden Muskeln, aber einem glücklichen Lachen im Gesicht. Wir sind zurück. Zurück in den hohen Bergen - mit dem Bike unter dem Hintern und dem Geschmack von rotem Staub und einer gut gewürzten Tajine im Mund. Let‘s Fetz.

Unsere über Satellitenbilder zusammengestellte Route führt uns die nächsten Tage mitten durchs Atlasgebirge. Pass reiht sich an Pass, oft auf schmalen, viel zu steilen Erdpisten oder auf kaum sichtbaren Maultierpfaden durchqueren wir tief eingeschnittene Bergtäler und weite Hochebenen. Es ist wie ein Zeitsprung, von der hektischen modernen arabischen Grossstadt, die Marrakech ist, in die ruhige, mittelalterlich wirkende Heimat der Berber im Hohen Atlas. Wir begegnen Ziegenhirten, die uns kopfschüttelnd vor dem Weitergehen warnen und uns am Ende trotzdem viel Glück wünschen. Wir passieren kleine Siedlungen aus lehmgestampften Häusern, die wie Bienenwaben an den steilen Talflanken kleben und sich meist um eine orangefarbene Moschee gruppieren. Die terrassierten Felder ziehen sich weit die Hänge hinauf und schaffen mit ihrem hellen Grün starke Kontraste zu der ariden braunen Umgebung.  

Auf den Gipfeln liegt Schnee, die Sommerlager sind noch unbewohnt und so mancher Singletrail stellt sich als eine ziemlich matschige Sauerei heraus. Wir schaffen selten mehr als dreissig Kilometer am Tag, aber das spielt keine Rolle. Oft tragen wir das Gepäck am Rücken, schrauben sogar die Pedale ab, um auf den schmalen und ausgesetzten Wegen unser Bike besser vorwärts schieben zu können. Es ist eine Tour, bei der wir uns manchmal verstohlen fragen, ob wir das Velo nicht besser zu Hause gelassen hätten. Doch dann folgt eine rasante Abfahrt und die ketzerischen Gedanken verschwinden sofort wieder. Bei einem richtigen Bikepacking Abenteuer wiegt die Vernunft zu schwer und man lässt sie am besten von Vornherein zu Hause. „I really like the hike-a-bike“ äffen wir lachend einen Radler nach, den wir damals im tiefen Sand der Hochanden getroffen haben. 

Im Tal von Ourika erreichen wir für ein paar Kilometer Asphalt. Die Rohloff Schaltung an einem der Bikes hat sich in den letzten Tagen langsam auf vier Gänge reduziert. Das sind schlechte Voraussetzungen für den nächsten steilen Pass und wir beschliessen, das Problem rasch zu beheben. Als wir die Schaltbox aufschrauben, ringeln sich uns feine Stahldrähte entgegen. Durch eingedrungenen Dreck haben sich die beiden Schaltkabel durchgescheuert und blockieren so das Gehäuse. Natürlich haben wir ein Ersatzschaltkabel dabei, doch wer rechnet schon damit, dass auf einem Kurztrip gleich zwei den Geist aufgeben? Gut, wir hätten es ahnen sollen. Schliesslich fahren unsere RAW seit beinahe drei Jahren ohne Service. 

Für eine lange halbe Stunde hängt die Fortsetzung unserer Tour an einem Faden. Doch wenn uns das Reiseleben etwas gelernt hat, dann ist das Improvisation. Für jedes Problem gibt es eine Lösung, man muss nur kreativ genug sein, um sie zu sehen und zugegeben - etwas Glück gehört auch dazu. Vorsichtig wickeln wir vom besser erhaltenen Schaltkabel Draht um Draht ab, bis nur noch der unzerrissene Kern übrigbleibt. Das Kabel ist zwar jetzt nur noch halb so dick wie es sein sollte, aber es lässt sich einziehen und scheint stark genug zu sein, um die Gänge zu wechseln, jedenfalls für die zwei verbleibenden Tage.

Wenig später pedalen wir bereits wieder hoch über dem Talboden. Die Königsetappe liegt vor uns. Der 3150m hohe Tizi n Ouhattar. Vor wenigen Jahren noch eine Trekkingroute, gibt es dort laut Satellitenbild inzwischen eine serpentinenreiche kleine Passstrasse, der wir nicht widerstehen können - auch wenn wir nur zwei Tage vorher auf 2400m durch knöcheltiefen Schnee gestampft sind. Irgendwie wird das schon gehen, zumal die Hänge hier viel trockener aussehen. In Timichi, dem letzten Dorf vor dem Pass, stellt sich uns eine alte Berberfrau in den Weg und versucht uns mit resoluten Armbewegungen und einem Wortschwall zur Umkehr zu bewegen. Jetzt fühlen wir uns doch etwas verunsichert, denn marokkanische Frauen zeichnen sich sonst eher durch Zurückhaltung aus. Allerdings sind wir nun schon so weit, dass wir uns von der alten Dame nicht aufhalten lassen wollen. Zurück sind wir ja dann schnell wieder, kommentieren wir mit einem Blick auf den steilen achthundert Höhenmeter Anstieg. 

Auf der Passhöhe wartet eine grosse Schneewehe auf uns, die wir jedoch umgehen können. Doch auf der anderen Seite liegt noch mehr Schnee, typische Nordhänge. Hätten wir die Vernunft eingepackt, würden wir jetzt umkehren, aber zum Glück haben wir die ja zu Hause gelassen. Und so packen wir wieder einmal um, schultern den Rucksack und beginnen unsere Bikes durch den Schnee zu schieben. 

Wir kommen gar nicht schlecht vorwärts, bis wir zu einer riesigen Schneewehe kommen, die längs über den steilen Hang verläuft. Das sieht nun auch für unsere Augen heftig aus. Eine Schneeschaufel haben wir nicht dabei und so zweckentfremden wir halt unsere Sattelstütze mit dem massiven Brooks Sattel daran als Eisaxt. Das klappt besser als erwartet und nach ein paar bangen Minuten stehen wir auf der anderen Seite, wo wir bald darauf die schneefreie Piste erreichen. Nun haben wir uns ein paar Datteln und Erdnüsse verdient. Und den wolkenfreien Blick auf den höchsten Berg Nordafrikas, den 4167m hohen Jebel Toubkal sowieso - „I really like the hike-a-bike!“

Inzwischen liegen die Schiebepassagen hinter uns. Die Abfahrt aus dem hohen Atlas nach Marrakech hatte so gar nichts mehr mit einem hike-a-bike zu tun. Auf einem flowigen Trail, dann auf seidenweichem Asphalt sind wir hinaus in die Ebene gesaust. Eine 2500 Höhenmeter Abfahrt, die fast so süchtig macht, wie der süsse Minztee aus dem Silberkännchen. Ein Prosit auf ein tolles Mini Abenteuer. À la prochaine, Maroc!

Zurück

© Alle Inhalte dieser Website gehören Brigitte & Ivo Jost, Hauptstrasse 82, 3854 Oberried, Schweiz
Für die Inhalte von verlinkten Seiten sind ausschliesslich deren Betreiber verantwortlich.