Kirgistan: Aller guten Dinge sind drei

„Pervyy raz?“ fragt der Taxifahrer, als wir Richtung Zentrum von Bishkek fahren. „Nein, wir sind bereits zum dritten Mal in Kirgistan.“ „Akouda?“ kommt die nächste Frage. „Schweizaria“ führen wir das Frage- und Antwortspiel geduldig weiter, bereits in dem Wissen, was als nächstes kommen wird. Et voilà: „Kirgistan kak Schweizaria“ stellt der Taxifahrer fest. Kirgistan ist wie die Schweiz, weshalb also kommt ihr bereits zum dritten Mal hierher? Nun, das ist eine längere Geschichte und übersteigt unsere Russischkenntnisse nun doch. Während wir das Gespräch den Erwartungen entsprechend zu Ende führen - Kirgistan ist schön, hat weniger Städte und Menschen, ist weiter, einsamer, abenteuerlicher - überlegen wir für uns, was uns eigentlich in diesen Sommerferien nach Kirgistan verschlagen hat.

Zum einen ist das sicher Jerry, unser Freund aus Colorado. Nachdem wir uns vor einem Jahr nach über vier Monaten gemeinsamem Unterwegssein kurz vor der mongolischen Grenze voneinander verabschiedet und seither nur sporadisch über whatsapp Kontakt hatten, freuen wir uns auf gemeinsame Sommerferien. Während es uns eher in die Cordillera von Peru gezogen hätte, wünschte sich Jerry etwas kulturell Neues und so landeten wir nach dem Abwägen von Flugverbindungen und -preisen schliesslich in Kirgistan. Zum anderen haben wir Kirgistan auf den zwei vorher gehenden Reisen mit einem vollbepackten Tourenrad und schwerem Trekkingrucksack bereist und damit das Potential des Landes als Bikepacking Destination bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Während wir das Tourenrad manchmal verwünscht hatten, weil es uns daran hinderte in die abgelegenen Täler hineinzufahren, verfluchten wir regelmässig den Rucksack, wenn wir mehrere Stunden zu Fuss auf einer alten sowjetischen Piste unterwegs waren, die geradezu nach ein paar Stollenreifen rief. Diesen Fehler wollten wir nicht noch einmal machen. Und am Schluss spielte wohl auch einfach ein bisschen Bequemlichkeit mit. Wir kennen die zentralasiatische Kultur fast schon in- und auswendig, können uns sprachlich durchschlagen, wissen, dass Zelten in Kirgistan einfach, der Flug über Istanbul direkt und günstig ist und in der „Schweiz Zentralasiens“ ein paar Routen auf uns warten, die wir schon länger auf dem Radar haben. Und wenn man einen Tag nach Schulschluss noch völlig gestresst und übermüdet von der Hektik des Schuljahrendes am Check-in Schalter steht, ist man gerade über diesen letzten Punkt nicht unglücklich.

Am fast surreal blauen Issyk Köl See starten wir zur ersten Überquerung des Tien Shan Massivs. Untrainiert wie wir sind, erleben wir auf dem halbzerfallenen Viehtrail über den 3800m hohen Dzhukhu Pass unser blaues Wunder. Steil, verblockt und mit viel zu dünner Luft in den Lungen wird es ein heftiges „Back to the road“. Blitzschnell über uns hinwegziehende Schneestürme mit Blitz und Donner und täglichem Neuschnee, dazu sich beängstigend schnell leerende Provianttaschen: Wir merken, dass wir uns schon wieder viel zu stark an die bequeme und voraussehbare Schweizermentalität gewöhnt haben.

Kirgistan ist eben doch nicht „kak Schweizaria“. Hier hat alles eine wildere und abenteuerlichere Note, auch wenn wir uns von der uns umgebenden Bergwelt hin und wieder in den Alpen wähnen. Aber schon bald stecken wir wieder mitten drin im Reiseflow und als wir in der Kleinstadt Naryn ankommen, ist bereits klar, dass wir trotz unbeständigem Wetter noch einen zweiten hohen Pass anhängen und uns mit einer speziellen Grenzlandbewilligung im Sack Richtung China aufmachen - allerdings erst nach einer dreitägigen Erholungspause und einer grossen Einkaufstour über den Basar. So knapp mit Proviant wie auf der ersten Etappe, wollen wir nicht noch einmal unterwegs sein. Denn mit rationierten Erdnüssen macht das Ganze irgendwie nicht mehr ganz so viel Spass.

Eine kurze Zeit fahren wir auf der Transitstrecke zum berühmten Torugart Pass, einem der wichtigsten Grenzpässe auf der alten Seidenstrasse vom Reich der Mitte nach Zentralasien und weiter nach Europa. Die Karawanen aus alter Zeit sind längst durch die allgegenwärtigen blauen Schwertransporter der Chinesen abgelöst worden. China überschwemmt den zentralasiatischen Markt mit seinem Billigschrott und vieles davon findet seinen Weg wie zu alter Zeit über den Torugart. Gut gelaunt biegen wir nach rund vierzig Kilometern vom Highway auf eine holprige Wellblechpiste ab, die uns Richtung Keel Su Lake führt.

Nachdem wir den ersten Checkpoint der kirgisischen Grenzpolizei mit unserem Permit zufrieden gestellt haben, biegen wir erneut ab und schon bald finden wir uns wieder keuchend und schiebend wieder. „Old 4x4 road to Keel Su, no longer in use“ steht in kleinen Buchstaben entlang der gepunkteten Linie auf unserer digitalen Landkarte. Fast senkrecht führt die mit hohem Gras überwachsene Spur himmelwärts und wieder einmal sehen wir uns in unseren Erfahrungen bestätigt: Nur russische UAZ Jeeps können eine solche Route legen, ein moderner Toyota oder Landcruiser hätte hier keine Chance. Und zugegeben: Auch wir kommen hin und wieder fast ans Limit. Verfluchte Sowjets!

Doch nach jedem neuen erklommenen Kamm rücken die schroffen Berge näher und das Panorama wird dramatischer. Wie eine scheinbar unüberwindbare Mauer trennt der Tien Shan hier die chinesische Provinz Xinjiang von Kirgistan. Einzig der Keel Su See, der „lange See“ hat sich über Jahrtausende einen mehr als vierzehn Kilometer langen Weg durch die Felsen gefressen. Doch als wir endlich an seinem Ufer stehen, blicken wir nicht auf das erwartete türkisgrüne Wasser. Ausgetrocknet liegt er vor uns, der Boden erinnert uns mit seinen tiefen Rissen im angetrockneten Schlamm eher an einen braunen Salzsee. Ein Zeichen der Klimaerwärmung?

Nach der ersten Enttäuschung finden wir Gefallen am Unerwarteten. Mit dem Bike fahren wir mehrere Kilometer hinein in den engen Canyon, schauen zu wie die ersten Sonnenstrahlen langsam an den steilen Felsklippen herunter lecken und uns endlich erreichen. Damit steigt die Temperatur langsam wieder über den Gefrierpunkt und wir können es uns erlauben, stehen zu bleiben. Der Weg nach China wäre also offen... doch wir führen im Herbst eine kleine Reisegruppe nach Osttibet und können uns keine Scherereien mit der chinesischen Grenzpolizei leisten. Und so kehren wir um, packen unser inzwischen wieder aufgetautes Zelt zusammen und machen uns - diesmal auf der Hauptroute - auf den Weg zurück in die Zivilisation.

Über ein paar kleinere namenlose Pässe und den bekannten Song Köl See erreichen wir schliesslich das Grande Finale - denn: Aller guten Dinge sind drei und der Kegeti Pass beweist, dass man auf alte Sprichwörter hören soll. Auch er eine alte sowjetische Piste, auf der Südseite im oberen Teil verschüttet und nur noch als Trekking- oder Hike-a-bike Strecke zu machen, doch auf der Südseite mit einer scheinbar nie enden wollenden Abfahrt hinunter ins Flachland. Auf knapp dreissig Kilometern vernichten wir mehr als dreitausend Höhenmeter und wechseln so innerhalb von Stunden vom kalten, unwirtlichen Hochgebirge ins trockene und schwüle Agrarland rund um Bishkek. Aller guten Dinge sind drei: Es war wohl unsere letzte Tour durch Kirgistan - aber hoffentlich nicht unsere letzte Tour mit Jerry. Bis nächstes Jahr in...

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